Institution, Kanon, Transformation. Opernhäuser und Opernpraxis als „geteiltes Erbe“. Ein interdisziplinärer Workshop des FragTrans-Clusters „Zur Gegenwart des kulturellen Erbes“

Oper als facettenreiche, mit Geschichte und Assoziationen aufgeladene Kunstform und gesellschaftliche Institution wird an der Universität Greifswald seit 2021 im Rahmen eines Unterprojekts des FragTrans-Teilprojekts „Zur Gegenwart des kulturellen Erbes“ im Hinblick auf aktuelle Beobachtungen im Ostseeraum untersucht. Wie in der IFZO-Zukunftskonferenz im Februar 2022 als Idee entwickelt, trafen sich Anfang Februar 2023 die Beteiligten und Assoziierten des Teilprojekts zum geteilten Erbe sowie Vertreter des Teilprojekts „Innovationen und Policy Mobilities im ländlichen Ostseeraum“ zu einem halbtägigen Workshop in Präsenz mit hybrider Teilnahmemöglichkeit. Das übergeordnete Ziel - neben der interdisziplinären Vernetzung innerhalb des FragTrans-Projektes - war es, etablierte Transformationstheorien anhand gegenwärtiger Strategien und Prozesse der Erhaltung kultureller Praxen zu untersuchen. Um Perspektiven aus den verschiedenen Disziplinen Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Geographie, Geschichte und Skandinavistik an einem konkreten Gegenstand zu bündeln und fokussierten Austausch zu befördern, befassten sich alle Beiträge und Diskussionen mit der Gattung und Institution Oper, ihrem Kanon, ihren Praktiken und ihrer Geschichte. Aufgrund des multimedialen Zuschnitts der Oper (orchesterbegleiteter Gesang, Darstellung, Szenographie, u.a. Film) sowie ihrer soziokulturellen Verflechtung mit urbanen, ökonomischen, politischen und sozialen Aspekten bietet der Forschungsgegenstand „Oper“ anregende interdisziplinäre Anknüpfungspunkte von der Architektur des Hauses über die Genese der Stücke, das künstlerische und technische Geschehen im Bühnenraum bis zur Finanzierung, Publikumsforschung oder zu Nachhaltigkeitsfragen.

Überaus deutlich werden Transformationsprozesse, wenn sie sich in Architektur und Stadtplanung wahrnehmbar niederschlagen. Besonders die nach dem Millennium erbauten Opernhäuser in Kopenhagen (2005) und Oslo (2008), die gleichzeitig eine Verbindung zum Wasser der Ostsee haben, lassen sich Entwicklungen der letzten 20 Jahre beobachten. Verena Liu und Clemens Räthel blickten in ihren Beiträgen auf diese beiden Institutionen. Da das Kopenhagener Opernhaus ein privatfinanziertes Geschenk eines Unternehmers an die Stadt war, der anschließend keine Finanzierung des kostspieligen Unterhalts übernahm, entstand eine diffizile politische Situation. Clemens Räthel analysierte das staatliche Verhalten zum mäzenatischen Bauprojekt mit Rückgriff auf Marcel Mauss‘ Theorie zum archaischen Konzept der Gabe[1]. Die Ebene von Finanzierungsproblemen kultureller Institutionen und privaten Engagements bei kulturellen Großprojekten führte im Plenum zu angeregten Überlegungen, inwieweit Transformationen und der Umgang mit kulturellem Erbe von privatem Kapital, auch im Rahmen von Sponsoring, mitgesteuert werden. Gleichzeitig trieb der Bau des Kopenhagener Opernhauses, ebenso wie die Oper in Oslo, gezielt die Erschließung einer brachliegenden stadtnahen Hafengegend voran. Verena Liu blickte daher auf die Bedeutung von Wasser oder Meer für Architektur und Innenleben der beiden Opernhäuser. Beide Gebäude waren explizite Pionierbauten im Rahmen gezielter Stadtentwicklung und sollten so eine beginnende Stadtteiltransformation signalisieren, die inzwischen auch sichtbar geworden ist. Unter der Annahme, dass Kulturbauten und -institutionen ein wichtiger Teil von Repräsentation nationaler Identität sowie kulturellem Erbe sind, ist der Standort am Wasser auch eine Betonung Norwegens und Dänemarks Verbundenheit zum Meer. Auch in der Innenausstattung sowie in den Opernaufführungen und anderen Veranstaltungen im Haus, wird immer wieder auf das Wasser, besonders auf maritime Motive Bezug genommen. In der Workshoprunde wurden daran anschließend weitere Verbindungen von Musik und Wasser aufgerufen, etwa die Fluidität von Wasser als Metapher für Musik oder auch die der Romantik entspringende Idee notwendiger symbolischer Reinigung durch Wasser (Überqueren eines Kanals oder Vorbeischreiten an einem Brunnen) vor dem Eintritt in einen „Kunsttempel“.

Die Schwelle von Außen nach Innen, den Weg zum Opernhaus und nach der Vorstellung zurück in die Straßen der Stadt thematisierte Arne Segelke. In Bezug auf liminale Räume wie das Theaterfoyer, Vorplätze oder Bürgersteige wurde deutlich, dass auch das Fließen und Strömen von Verkehr oder Fußgänger*innen eine Wasserassoziation auslöst. Das begehbare Dach des Osloer Opernhauses macht das Gebäude zu einer städtischen Plaza, die Oper wird somit nicht nur vom Fjord umströmt, sondern auch von sich bewegenden Menschen. Die Zugangswege, Bürgersteige oder wie in Kopenhagen die ÖPNV-Zufahrt über Wasser erweitern somit den Opernabend über das Erlebnis im Opernhaus hinaus nach draußen, während gleichzeitig das Meer durch Inneneinrichtung, Kunstwerke, Operninszenierungen ins Gebäude geholt wird. Clemens Lisdat setzte als Vertreter des FragTrans-Teilprojekts zum ländlichen Raum grundsätzlich bei den Geographien des Raums der Oper an und schlug unter anderem die Assemblage-Theorie oder das Territorium als mögliche theoretische Rahmen vor. Auch hierbei sind Beobachtungen und Überlegungen zum Innen und Außen von Opernhäusern aufschlussreich, neben dem physischen Raum existiert auch ein sozial konstruiert sowie nur temporär entstehender Raum. Beispielsweise für die Frage nach geeigneten Orten für immaterielles kulturelles Erbe ist diese differenzierte Wahrnehmung eines Raums, der während einer Aufführung entsteht, aber nicht permanent vorhanden ist, relevant.

Einen Blick auf Bühne und Publikumsraum von Opernhäusern, besonders des Bayreuther Festspielhauses, warf Kilian Heck. Wichtige historische Transformationen in der Opernpraxis wie Einführung des Orchestergrabens und des abgedunkelten Zuschauerraums, aber auch der Szenographie und Bühnenmalerei wurden angesprochen. Das immersive Moment, das Opernerlebnisse haben können, wird auch in modernen Opernbauten des Ostseeraums angestrebt. In diesem Zusammenhang findet vermutlich auch die Betonung von Oper als eine musikalische Kunstform, die live und ohne elektronische Verstärkung aufgeführt werden muss, und damit zusammenhängend die zurückhaltende Einstellung gegenüber Opern-Streamingformaten seitens Opernschaffenden und Opernenthusiast*innen teilweise seine Erklärung. Während der Pandemie entwickelte Video- und Streamingkonzepte konnten sich nicht durchsetzen und wurden durch Live-Aufführungen ersetzt, sobald es wieder möglich war – obwohl auch im Opernbetrieb Digitalisierung aktuell ein wichtiges Stichwort ist.

Als ein „Medium der Gefühle“ bezeichnete Eckhard Schumacher die Kunstform Oper in Bezug auf Alexander Kluge, dessen bekanntes Zitat „Die Oper ist ein Kraftwerk der Gefühle“ das Opernhaus als Kraftwerk sieht. Die Verkabelung des Kraftwerks reicht jedoch laut Kluge nicht immer bis zur Bevölkerung und steht somit der Öffentlichkeit gegenüber unter Legitimierungsdruck. Aufgrund des öffentlich auf die Bühne gebrachten gesteigerten Gefühls oder wie Kluge auch im Titel seiner Opernausstellung „Tempel der Ernsthaftigkeit“[2] anklingen lässt, einer emotionalen Wahrhaftigkeit, zeigt sich in seiner Beurteilung die Bedeutung von Opern für die sich in Transformation befindende Gesellschaft. Die Gefühlswelt der Oper ist dabei zwar kanonlastig, aber dieser Kanon kann auf vielfältige Weise auf weitere Themen, historisch-politische Zusammenhänge, Bilder- und Klangwelten übertragen oder mit diesen in Zusammenhang gesetzt werden. Dabei ist gleichzeitig augenfällig, wie in der Diskussion angemerkt wurde, dass ein Opernhaus als komplexe Institution selbst ebenso ein in Transformation sowie Erneuerungswiderstand befindlicher Organismus ist. Gesa zur Nieden thematisierte ebendiese Transformationen der Gattung Oper anhand der um die Jahrtausendwende entstandenen „Hip Hoperas“ als hybrid art form (Jerrold Levinson) zwischen Oper, Film und Tanz. Im Hinblick auf die Frage, welche Erneuerungstendenzen sich in diesem Genre spiegeln, wurde klar, dass auch hier mit den Schwerpunkten Carmen von Bizet und Rossini-Opern ein Kanon vorhanden ist (vgl. z.B. Carmen. A Hip Hopera (Robert Townsend, 2001) mit Beyoncé Knowles in der Hauptrolle), dass sich zeitgenössische Hip Hoperas jedoch viel stärker auf opernferne Elemente wie Instrumentalmusik beziehen und in Konzerthäusern angesiedelt sind. Hierin sind sie opernnahen Filmen wie Glass Onion. A Knives Out Mystery (Rian Johnson, 2022) ähnlich, der Spiegelungen von Figuren, Objekten und Erzählungen sowie Vaudevilles nutzt, gleichzeitig aber auch auf die Musik Bachs und Cembali zurückgreift, um die Verletzlichkeit der Kunst in einer technokratischen Spiel-Gesellschaft zu thematisieren. Die Transformation der Oper geschieht in diesen Produktionen folglich über die Kategorien der Instrumentalmusik, der Historiographie und der Choreographie statt allein über opernzentrale Elemente selbst.Davon angeregt blickten die Workshopbeteiligten auf weitere hybride Kunstformen, die „Oper“ im Namen tragen, und es fiel auf, dass diese sich ihre Bühne eher abseits des Opernhauses suchen. Beispielsweise wählten sich Beyoncé und Jay-Z mit dem Louvre in Paris ein Kunstmuseum für ihren Musikvideodreh zu „Apeshit“ (2018). Orte der „Hochkultur“ werden somit popkulturell vereinnahmt. Manches wird pars-pro-toto als Code verwendet wie etwa die Musik Johann Sebastian Bachs, die gerne als Symbol für klassische Musik im Allgemeinen eingesetzt wird. In der Diskussion wurde angemerkt, dass Oper sich eher auf ihren einzelnen Ebenen verändern oder erneuern kann als dass eine koordinierte Rundumerneuerung möglich wäre. Auf der anderen Seite kann man Oper gerade daher als „Kulturerbe par excellence“ ansehen, weil die existierenden Repertoirestücke immer aktuell interpretiert, inszeniert und damit lebendig bleiben müssen, um Oper als kulturelles Erbe zu legitimieren.

Katja Pfeifer unterstützte in der abschließenden Diskussion den Standpunkt, dass Oper per se nicht etwa schützenswert sei, sondern sich relevant halten und dadurch selbst schützen müsse. An die zu Beginn der Abschlussdiskussion gezeigten aufgezeichneten Statements zur Frage „Inwiefern sind die Oper und ihr Repertoire ein erhaltenswertes Weltkulturerbe?“[3] schloss sich Anja-Christin Winkler an und betonte die Rolle des Publikums für den Umgang mit Opernrepertoire. Da das typische Opernpublikum ihrer Erfahrung nach weder neue Opern noch als zu modern empfundene Inszenierungen schätzt, stößt die angenommene Innovationskraft der Institution Oper auf der Rezeptionsseite auf Grenzen. Das oben besprochene „Kraftwerk der Gefühle“ ist auf den guten Kontakt zum Publikum angewiesen, was sowohl Ilka Seifert als auch Sarah Hegenbart in ihren Statements mit ihren Beobachtungen untermauerten, dass viele Menschen in die Oper gehen, um dort in bekannten Repertoirestücken bestimmte Gefühle und Geschichten mitzuerleben und dass weltweit Menschen von Opern aus dem global verbreiteten Kanon berührt werden.

Im Vorfeld des Workshops wurden Opernspezialist:innen aus Wissenschaft und Praxis um Statements zu zwei Fragen gebeten: 1) „Inwiefern sind die Oper und ihr Repertoire ein erhaltenswertes Weltkulturerbe?“ 2) „Wohin entwickelt sich die Oper als Kunstform gerade und in Zukunft?“ Die Kurzantworten im Videoformat werden nun auf der Internetseite des IFZO zugänglich gemacht und können nachgehört werden. Die Aussagen der Statements reichen dabei von der Annahme, dass sich die Zahl der Opernhäuser demnächst deutlich reduzieren wird, über Forderungen nach einem grundlegenden Neudenken der Oper, zu Fragen der Diversität und Legitimität sowie auch zum freieren Umgang mit dem Opernkanon und dem Werkbegriff.

In der Diskussion um das geteilte kulturelle Erbe „Oper“ wurde der Vergleich zu einer – im juristischen Sinne – Erbengemeinschaft als passendes Bild aufgeworfen. Besonders im aktuellen gesellschaftlichen Klima u.a. in Deutschland wird hinsichtlich privaten Vererbens und dadurch angehäuftem Vermögen im Kontrast zu sinkendem Wohlstand in der Durchschnittsgesellschaft in den letzten Jahren eine zunehmend kritische Diskussion geführt. Dies schwingt auch in kultureller Hinsicht mit, weil im Diskurs ein moralisches Fragezeichen in Bezug auf beispielsweise die bisherige Förderung von Kulturinstitutionen spürbar wird, der nur durch einen expliziten Bildungsauftrag der jeweiligen Institutionen zu rechtfertigen ist. Inwiefern dieser eine wichtige Rolle für zukünftige Generationen spielt, wagen die meisten angefragten Spezialist:innen in ihren Opernstatements angesichts der voraussichtlich schwindenden Zahl an Opernhäusern (Arnold Jacobshagen) nicht immer zu sagen. Zwischen einer endgültigen Musealisierung der Oper (Johannes Kreidler) und den vielfältigen Anschlussmöglichkeiten dieser Gattung an aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen sehen sie insbesondere die angefragten Dirigenten als auch zukünftig nicht nur weiterhin relevante, sondern auch notwendige Ausdrucksdimension fernab vornehmlich visuell baiserter Medien (Cornelius Meister, Florian Csizmadia).

Im Workshop wurde herausgearbeitet, dass kulturelle Transformationen in hohem Maße von Institutionen und ihren Wertesystemen geprägt sind, aber auch von zeitlichen Dynamiken im Umgang mit Vergangenheit und Zukunft sowie von Herausforderungen der Gegenwart in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt. Darüber hinaus verlaufen kulturelle Transformationen nicht linear, sondern kaskaden- oder kettenartig, und sind mit Fragmentierungen verbunden, die sich aus der Selektion des zu Transformierenden oder Übertragenden, aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Generationen oder dem Spannungsfeld zwischen Lokalem, Regionalem und Globalem ergeben. Eine besondere Bedeutung haben Transformationstheorien für die Erhaltung von Kulturgütern, Landschaften und Praktiken oder – größer gefasst – ‚Vergangenheiten‘, die als kulturelles Erbe verstanden werden. Da die genannten Objekte, Handlungsweisen und Zeitlichkeiten für die „Erbewerdung“ selektiert, bewertet und dadurch transformiert werden, können Prozesse der Übertragung kulturellen Erbes bestehende Transformationstheorien ergänzen, erweitern und aktualisieren.

 

 

[1] Marcel Mauss: Essai sur le don, Paris 1924; dt. Übersetzungen: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1968, 1990.

[2] Alexander Kluge, Ausstellung „Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit“ Ulm, Halberstadt, Stuttgart 2019-2020.

[3] Statements von Benedikt Bindewald, Florian Czismadia, Gabriele Groll, Ulrike Hartung, Sarah Hegenbart, Arnold Jacobshagen, Johannes Kreidler, Cornelius Meister, Elise Schobeß, Ilka Seifert, Jasmin Solfaghari, Alexander Thomas, Marie Luise Voss. Siehe Video 1.