Kontext und Hintergründe zur russischen Invasion in der Ukraine

Stipendienprogramm der Universität Greifswald für ukrainische Wissenschaftler*innen

Informationsseite der Universität Greifswald: www.uni-greifswald.de/ukraine


Sanktionen, Gegenmaßnahmen und Rechtssicherheit

Judith Kärn & Michael Kalis, IFZO Energie Cluster

Einleitung

Am 24. Februar 2022 hat Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet und Europa in eine Zeit zurückversetzt, die weithin überwunden schien. Die internationale Staatengemeinschaft reagiert nahezu geschlossen mit Solidarität für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland. Ein Spezifikum dieses Krieges liegt darin, dass Reaktionsmöglichkeiten stark von den jeweiligen Energiebeziehungen der einzelnen Länder zu Russland geprägt sind. Während etwa die USA ein weitreichendes Import-Embargo für russisches Öl und Gas als Sanktionen für die Völkerrechtsverletzung verhängt haben, hat Deutschland den Schritt zu einem solchen Embargo bislang (Stand 30.04.2022) nicht unternommen. Im Zuge der mutmaßlichen offenbar gewordenen Gräueltaten in Butscha werden jedoch einmal mehr Forderungen nach einem durch Deutschland sofort zu verhängenden Energieimportembargo laut über das derzeit diskutiert wird. Im Fokus stehen hierbei die Gasleitungen in der Ostsee, Nord Stream und Nord Stream 2. ➤

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➤ Die beiden Pipelines waren stets von ausführlichen und intensiven Debatten in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft begleitet. Dabei war die gaswirtschaftliche Notwendigkeit der Leitungen zwischen Deutschland und Russland keineswegs der ausschließliche Bestandteil der Debatte. Insbesondere Nord Stream 2 wurde zunehmend zu einem Streitprojekt. Stand der Bau vor zahlreichen Herausforderungen und war die Inbetriebnahme auch weiterhin fraglich, wurde das Projekt von den Beteiligten weiter vorangetrieben. Erst die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine, der in einem Angriffskrieg durch Russland mündete, besiegelte (vorerst) das vorzeitige Schicksal von Nord Stream 2. In einer wohl noch nicht abgeschlossenen Kaskade der Ereignisse wurde das Zertifizierungsverfahren für die noch ausstehende Genehmigung zum Betrieb der Gasleitung ausgesetzt, den Mitarbeitern gekündigt, das Unternehmen steht offenbar vor der Insolvenz. In einem gänzlich anderen Licht stand in Abgrenzung zu dieser Abwärtsspirale der „kleine Bruder“ Nord Stream 1.

Obgleich mit Beginn der vom Bundeskanzler Scholz beschriebenen und durch Russlands Angriffskrieg eingeleiteten „Zeitenwende“ die Zeichen deutlich auf Diversifizierung und Abkehr von russischen (fossilen) Energieträgern stehen, ist ein solcher Weg keineswegs, ohne entsprechende unmittelbare und mittelbare Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft zu vollziehen. Nichtsdestotrotz werden Rufe nach konsequenten Maßnahmen laut. Der Frieden – und hier damit Sanktionsmaßnahmen auch im Hinblick auf Nord Stream, ungeachtet der daraus folgenden eigenen Belastungen – stehe über dem wirtschaftlichen Wohlbefinden der Gesellschaft und Industrie. Auch die Idee „Frieren für den Frieden“ steht im Raum. Es scheint, Sanktionen gegenüber Nord Stream und den russischen Gaslieferungen an Deutschland, sind ein zweischneidiges Schwert. Hier kann schwerlich untersucht, geschweige denn beantwortet werden, wen der Streich mit einem solchen Schwert schwerer trifft und ob der Einsatz es „wert“ ist. Entsprechende Sanktionsmaßnahmen müssen wohlüberlegt und geprüft sein. Letzteres umfasst im Besonderen auch die rechtliche Zulässigkeit dieser Maßnahmen sowie einen (vorsichtigen) Ausblick auf mögliche Maßnahmen seitens Russlands. Es ist gerade eine solche rechtliche Einschätzung, die diese Untersuchung als Beitrag zur Konfliktbehandlung liefern möchte.

2. NordStream – Rechtssicherheit in multipolaren Rechtsbeziehungen?

Den vorherigen Ausführungen folgend sollen die rechtliche Zulässigkeit und Auswirkung, d.h. mögliche Gegenmaßnahmen und Reaktionen, von Sanktionen gegen Nord Stream untersucht werden. Dabei werden in einem ersten Schritt grob die betroffenen Rechtsbeziehungen beschrieben und das anwendbare Recht skizziert. Anschließend werden die einschlägigen Vorschriften in der gebotenen Kürze geprüft. Die rechtswissenschaftliche Analyse schließt mit einer Beschreibung und Einschätzung zu möglichen (rechtlichen) Gegenmaßnahmen und wirft damit letztlich die Frage einer (abschließenden) Rechtsklärung auf.

2.1 Multipolare Beziehungen

Der Betrieb der Anlage Nord Stream und die deutsch-russischen Gaslieferungen stellen sich zunächst als geschäftliche Handlungen unter privaten Rechtsträgern dar. Wenngleich es sich beim russischem Unternehmen Gazprom angesichts der Mehrheitsanteile durch Russland um ein Staatsunternehmen handelt, bestehen in erster Linie Rechtsverhältnisse zwischen der Gazprom Export, einer 100%igen Tochterfirma von Gazprom und Uniper, VNG und Wingas. Diese sind durch privatrechtliche Verträge ausgestaltet, in welche kein Einblick besteht.

Verträge zwischen Deutschland und Gazprom bestehen abseits dieser privatrechtlichen Verträge nicht. Indes bestehen Rechtsbeziehungen im Sinne von gegebenenfalls einschlägigen Investitionsschutzabkommen. Ungeachtet fehlender, explizit zur Gaslieferung ausgehandelter, Verträge können somit Rechtsbeziehungen und folglich Rechte und Pflichten unter diesen Abkommen bestehen.

Im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland existieren nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz keine bilateralen Verträge zu Gaslieferungen. Eine vertragliche Energiepartnerschaft besteht nicht. Mithin ist auf das internationale Handelsrecht abzustellen.

2.2 Anwendbares Recht

Mögliche Sanktionen und Gegenmaßnahmen tangieren eine Vielzahl an rechtlichen Regelungsregimen, in deren Kontext jeweils die Zulässigkeit solcher Maßnahmen zu begutachten ist.

2.2.1 Internationales Privatrecht, deutsches bzw. russisches Privatrecht

Das internationale Privatrecht hält selbst keine eigenen Rechten und Pflichten zur Regelung vertraglicher Rechtsbeziehungen vor. Vielmehr regelt es im Falle internationaler Rechtsbeziehungen die Anwendbarkeit des nationalen Rechts. Hier also gibt es Antwort auf die Frage, ob in den deutsch-russischen Vertragsbeziehungen deutsches oder russisches Recht zur Anwendung kommt. Innerhalb der Europäischen Union gilt für internationale, vertragliche Schuldverhältnisse die sog. Rom I – Verordnung. Gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Rom I ist die Verordnung auf vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen anwendbar, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten, folglich auch nicht europäischer Staaten, haben. Die Verordnung sieht zunächst eine freie Wahl des anwendbaren nationalen Rechts durch die Vertragsparteien vor, Art. 3 Abs. 1 Rom I. Mangels Einblick in die Verträge soll hier auf Art. 4 Abs. 1 lit. a) Rom I zur Anwendbarkeit des nationalen Rechts bei fehlender freiwilliger Vereinbarung abgestellt werden. Demnach ist für Kaufverträge über bewegliche Sachen das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der gewöhnliche Aufenthalt von Gesellschaften und juristischen Personen ist der Ort ihrer Hauptverwaltung. Der Sitz des Unternehmens Gazprom ist in St. Petersburg, der Sitz der Nord Stream AG ist in Zug, in der Schweiz. Nach diesen Maßstäben wäre, abhängig von den betroffenen Rechtsverhältnissen, russisches bzw. schweizerisches Privatrecht anzuwenden. Die ROM I-Verordnung sieht jedoch die Anwendung von sog. Eingriffsnormen vor. Dies sind zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Demnach könnten ungeachtet der grundsätzlichen Anwendbarkeit russischen bzw. schweizerischen Privatrechts vereinzelte zwingende Normen deutschen Privatrechts zur Anwendung kommen. Unbeschadet einer ausstehenden Prüfung, welche Normen des deutschen Privatrechts als solche Eingriffsnormen in Frage kämen, kann hier bereits festgehalten werden, dass den privaten Rechtsträgern wenig bis gar keine Handlungsoptionen zukommen. Weder eine Annahmeverweigerung der Gaslieferung noch eine (rechtliche) Unmöglichkeit, etwa der eigenen Zahlungsverpflichtungen oder Abnahme, sind ohne staatlich veranlasste Sanktionsmaßnahmen haltbar. Nicht minder schwer fiele die Begründung zum Auflösen der Verträge, sei es wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage oder der Vertrauensgrundlage. Mag jedenfalls im geopolitischen Kontext die Interdependenz von russischen Gaslieferungen über NordStream und dem Ukraine-Krieg ersichtlich sein, ist eine solche Wechselbeziehungen oder gar Grundlage für die privatrechtlichen Gaslieferungsverträge nicht ohne Weiteres begründbar. Zwar enthalten Lieferverträge oftmals Klauseln zur force majeure, die auch den Umgang mit Kriegszeiten und bewaffneten Konflikten regeln können. Ohne Einsicht in die Verträge kann hierzu jedoch keine Stellung bezogen werden, sodass abschließend Folgendes für die privatrechtlichen Verträge festgehalten werden muss. Ein "Auslagern“ der Entscheidung über mögliche Maßnahmen gegen NordStream bzw. russische Gaslieferungen auf die privaten Rechtsträger, etwa im Sinne einer moralischen Verpflichtung, ist aus rechtlicher Sicht nicht erfolgsversprechend.

2.2.2 Allgemeines Völkerrecht

Staatliche Maßnahmen in Reaktion auf einen Verstoß des Völkerrechts könnten als Sanktionen eingeordnet werden. Die völkerrechtliche Zulässigkeit von unilateralen Sanktionen ist umstritten.[1] Es existieren keine konkreten völkerrechtlichen Rechtsnormen, die definieren würden, ob oder unter welchen Umständen unilaterale Sanktionen Deutschland eine rechtlich zulässige Reaktion auf Völkerrechtsverstöße darstellen können.

In der UN-Charta wird im Kapitel 7 in Artikel 41 eine Grundlage für die Verhängung von Wirtschaftssanktionen durch die Völkergemeinschaft geschaffen. So kann der Sicherheitsrat beschließen, welche Maßnahmen, die nicht den Einsatz von Waffengewalt beinhalten, anzuwenden sind, um seinen Beschlüssen Wirkung zu verleihen, und er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, solche Maßnahmen anzuwenden. Dazu können auch die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen sowie der Abbruch der diplomatischen Beziehungen gehören. Voraussetzung ist jedoch, dass gem. Art 39 der UN-Charta der UN- Sicherheitsrat das Vorliegen einer Bedrohung des Friedens, eines Landfriedensbruchs oder einer Angriffshandlung feststellen muss und Empfehlungen abgibt oder beschließt, welche Maßnahmen nach den Artikeln 41 und 42 zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu ergreifen sind. Zwar hat die UN-Generalversammlung den Angriff Russlands auf die Ukraine mit großer Mehrheit verurteilt, doch ist die gegen Russland gerichtete Resolution gegen den Einmarsch in die Ukraine wegen des russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat gescheitert. Etwaige Sanktionsmaßnahmen Deutschlands wären damit bis auf Weiteres nicht vom Recht der UN-Charta gedeckt.

Allerdings können Sanktionen auch ohne den Rückhalt im Recht der UN-Charta als gängige Praxis möglicherweise dem Völkergewohnheitsrecht unterfallen, doch ist hier deren Akzeptanz umstritten.[2]

Gegen die rechtliche Zulässigkeit, unilateral Sanktionen zu verhängen, könnte etwa sprechen, dass dem UN-Recht als Regelungsordnung für alle Belange von Sicherheit und Frieden abschließender Charakter zukommt. Andererseits hat sich eine weitreichende Praxis von unilateralen Sanktionen als Antwort auf schwerwiegende Verstöße des Völkerrechts herausgebildet.[3]  Dies wird etwa auf Art.41 ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit als Anknüpfungspunkt für eine mögliche völkergewohnheitsrechtliche Zulässigkeit unilateraler Sanktionen gestützt.[4] Gemäß Art. 41 Nr.1 der Artikelentwürfe der ILC arbeiten die Staaten zusammen, um jede schwere Verletzung im Sinne des Art 40 ILC-Entwurfs durch rechtmäßige Mittel zu beenden. Art. 40 wiederum definiert, dass Art 41 Anwendung findet auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit, die eine schwere Verletzung einer Verpflichtung darstellt, die aus einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts erwächst. Art 2 IV der UN-Charta, wonach alle Mitglieder in ihren internationalen Beziehungen die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates zu unterlassen haben, ist eine solche zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts. Durch den Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russland gegen diese Norm verstoßen. Folgt man der (mit Unsicherheit behafteten) Auffassung, dass schwere Wirtschaftssanktionen in Form eines Gas-Importembargos einen Beitrag dazu leisten können, den Angriffskrieg zu beenden (etwa indem wirtschaftspolitischer Druck zur Unterlassung des völkerrechtswidrigen Verhaltens aufgebaut wird), so könnten solche Sanktionen wie etwa ein Importembargo in Bezug auf russisches Gas (und damit auch Nord Stream 1) im Sinne des durch Art 41 Nr.1. festgehaltenen Völkergewohnheitsrechts legitimiert werden. Zwar ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht geklärt, ob und inwiefern Sanktionen tatsächlich einen realen Beitrag zur Unterbindung völkerrechtswidrigen Verhaltens leisten, was sie durchaus auch aus juristischer Perspektive angreifbar macht.[5] Dennoch sollten im juristischen Kontext keine allzu strengen Anforderungen an generalisierende empirische Ursache-Wirkungszusammenhänge gestellt werden, deren Gültigkeit aus einer ex-ante Perspektive für den Einzelfall ohnehin nicht auszumachen ist. Schwieriger zu beurteilen ist dagegen, ob auch die Aussetzung des Zertifizierungsverfahrens von Nord Stream 2 im Sinne des Art 41 Nr.1. zu rechtfertigen ist, ist . Stellt man darauf ab, dass die Pipeline noch gar nicht in Betrieb ist und darüber hinaus EU-rechtliche Anforderungen bislang nicht erfüllt sind, die derzeit ohnehin eine erfolgreiche Zertifizierung als unwahrscheinlich erscheinen lassen, so ist fragwürdig, inwieweit eine auf Völkergewohnheitsrecht gestützte Aussetzung des Verfahrens eine geeignete Maßnahme darstellen kann, die schwere Völkerrechtsverletzung zu beenden. Schließlich ergibt sich kein Unterschied zum derzeitigen status quo des Zertifizierungsverfahrens. Stellt man dagegen darauf ab, dass bei Anpassung der Strukturen der Nord Stream 2 AG jedenfalls eine Aussicht auf Zertifizierung auch nach EU-Recht besteht, kann die Maßnahme als geeignet erscheinen, wirtschaftspolitischen Druck auf die russische Regierung auszuüben, der einen Betrag dazu leisten könnte, dass Russland sein völkerrrechtswidriges Handeln unterlässt.

Weiter können Sanktionen auch auf Nr. 2 des das Gewohnheitsrecht festhaltendenen Art 41 gestützt werden. Hiernach erkennt kein Staat die durch eine schwere Verletzung im Sinne des Art. 40 hervorgerufene Situation als rechtmäßig an oder leistet Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung dieser Situation. So könnte in der Zurverfügungstellung von Geldern, die Russland aus den Energiebeziehungen mit Deutschland (etwa über Nord Stream 1) erwirtschaftet und (dies unterstellt auch) zur Finanzierung des Krieges nutzt, eine Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der schweren Völkerrechtsverletzung gesehen werden. Auch hier fiele die Begründung von Sanktionen gegen Nord Stream 2 deutlich schwerer, insofern hier bislang keine Gewinne erzielt werden. Abgestellt werden könnte allenfalls zukünftige Gewinne, die für die Kriegsfinanzierung eingesetzt werden können oder auf eine implizite moralische Unterstützung des Angriffskrieges durch das Unterlassen der Verhängung von Sanktionen. Doch dies würde wohl eine Überdehnung des ohnehin umstrittenen Völkergewohnheitsrechts bedeuten.

Während hier im Ergebnis energiewirtschaftliche Sanktionen mit Bezug zu Nord Stream 1 und Nord Stream 2 gegen Russland als aus völkerrechtlicher Perspektive zulässig erachtet werden können, muss weiter gefragt werden, ob dies auch im Hinblick darauf gelten kann, dass solche Sanktionen starke Auswirkungen auf Private haben (z.B. die Nord Stream AG zur Betreibung von Nord Stream 1, bei der Gazprom 51% der Anteile hält, während Wintershall und E.ON Ruhrgas zu gleichen Teilen die restlichen Anteile halten). Schließlich werden Sanktionen umso schwieriger begründbar, je mehr Anteile durch Private gehalten werden, deren Handeln per se in keinem direkten Zusammenhang mit dem Angriffskrieg steht.[6]  Um die Voraussetzungen der Rechtsmäßigkeit solcher Sanktionen im Kontext von deren Auswirkungen auf Unternehmen näher bestimmen zu können, kann jedoch der – wenn auch vor dem EuGH verhandelte - Fall PJSC Rosneft Oil Company gegen Her Majesty's Treasury u. a herangezogen werden. Im Falle Rosneft hatte das gleichnamige Öl-und Gasunternehmen gegen die im Kontext der Ukraineannexion verhängten Sanktionen geklagt. Rosneft wies zum damaligen Zeitpunkt, wie z.B. die Nord Stream AG, eine Eigentümerstruktur auf, bei der der russische Staat nicht 100% der Anteile hält. Bei Rosneft werden etwa rund 20% von BP Russian Investments Ltd., einer Tochter des britischen Ölunternehmens BP plc, gehalten. In diesem Urteil machte der EuGH die Verhältnismäßigkeit von Sanktionen gegenüber dem völkerrechtswidrigen Verstoß zur Voraussetzung und urteilte, dass Unternehmensgrundrechte wie z.B. das Recht auf Eigentum oder das Recht zur unternehmerischen Freiheit nicht absolut gewährt werden, sondern „ ihre Ausübung Beschränkungen unterliegen [kann], die durch von der Europäischen Union verfolgte Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, sofern diese Beschränkungen tatsächlich Zielen des Allgemeininteresses entsprechen und im Verhältnis zum verfolgten Ziel keinen unverhältnismäßigen und unerträglichen Eingriff darstellen, der den Wesensgehalt der garantierten Rechte beeinträchtigt“[7]. Diese Erwägungen lassen sich im Grundsatz durchaus auf grundrechtsrelevante Fragen übertragen, die Gazprom Export wie auch die Nord Stream AG oder die Nord Stream 2 AG direkt betreffen, als rechtfertigbar erscheinen.

Im Ergebnis werden hier die oben dargestellten Szenarien als völkergewohnheitsrechtskonforme Sanktionen betrachtet. Da Deutschland jedoch über ein Gasversorgungsnetz mit weiteren Staaten verbunden ist, stellte sich bei einem Alleingang Deutschlands das Problem, dass möglicherweise andere Staaten ebenfalls vom Netz bzw. von Gaslieferungen über dieses abgeschnitten werden[8]. So könnten solche Auswirkungen der Sanktionen auf unbeteiligte Drittstaaten als völkerrechtswidrig eingeordnet werden.[9] Insofern wäre jedenfalls ein gemeinsamer europäischer Beschluss im Rahmen der GASP anzuraten.

2.2.3 Recht der internationalen Verträge

Internationale Verträge zur Gaslieferung bestehen, wie bereits festgehalten, zwischen Deutschland und Russland nicht. Doch auch wenn solche Verträge bestünden, wäre eine Beendigung in Form der Kündigung oder nur eine Suspendierung keineswegs ohne weiteres möglich. Gemäß Art. 26 der WVK sind Verträge zu wahren. Verträge können nur ausnahmsweise beendet werden. So bei einer entsprechenden vertraglichen Vereinbarung im Vertrag selbst oder durch Einvernehmen der Vertragsparteien, vgl. Art. 54 WVK. Zu beachten ist, dass ein solches Recht auf Rücktritt vom Vertrag und Suspendierung durch ausdrückliche Zustimmung zum Aufrechthalten der Vertragsbeziehungen oder durch entsprechendes Verhalten verloren werden kann, vgl. Art. 45 WVK. Liegt in den einschlägigen Verträgen keine Kündigungsklausel vor, besteht insbesondere eine 12-monatige Notifizierungspflicht für eine Kündigungsabsicht, Art. 56 Abs. 2 WVK. Indes ist eine Beendigung bzw. Suspendierung bei erheblicher Vertragsverletzung möglich, Art. 60 WVK. Hierfür müsste jedoch eine unzulässige Ablehnung des Vertrages oder eine Verletzung einer für die Erreichung des Vertragsziels oder Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung vorliegen. Vorgesehen ist überdies die Beendigung bzw. Suspendierung bei grundlegender Änderung der Umstände. Hierfür müssten die Umstände eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien zur Vertragsbindung sein und die Änderung der Umstände würde das Ausmaß der auf Grund des Vertrages noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten.

Zwischen Russland und der EU und ihren Mitgliedstaaten besteht seit 1997 ein Partnerschaftsabkommen. Dieses enthält eine ganze Reihe von Vereinbarungen, denen Sanktionen im Sinne eines Importembargos zuwiderlaufen würden. Zwar geht Art. 65 nur sehr oberflächlich auf die Energiebeziehungen zwischen den Vertragspartnern ein und bestimmt z.B., dass die Zusammenarbeit im Bereich Energie z.B. die Schaffung der notwendigen institutionellen, rechtlichen, steuerlichen und sonstigen Voraussetzungen für die Förderung einer Ausweitung von Handel und Investitionen im Energiebereich oder die Modernisierung der Energieinfrastruktur, einschließlich des Verbunds der Gas- und Elektrizitätsversorgungsnetze umfasse. Da diese Vorschrift jedoch auch als politische Zielbestimmung des Abkommens gelesen werden kann (so wird z.B. auch die Formulierung einer Energiepolitik als Zusammanarbeitsziel definiert) ist fraglich, inwieweit sie justiziabel ist. Allerdings liefen Sanktionsmöglichkeiten wie ein Importembargo oder eine reduzierte Abnahme  jedenfalls den Artikeln 12 (freier Transit) und 15 (keine mengenmäßigen Beschränkungen) zuwider.

Artikel 19 des Abkommens sieht allerdings vor, dass das Abkommen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegensteht, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit und zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, der natürlichen Ressourcen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des geistigen, gewerblichen oder kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen dabei jedoch weder ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Vertragsparteien darstellen. Hier mag man andenken, ob die öffentliche Sittlichkeit oder der Schutz des Lebens von Menschen als Anknüpfungspunkt für eine Derogation dienen können. So könnte argumentiert werden, dass es Moralvorstellungen gebieten können, Gaslieferungsabnahme zu verweigern, wenn anzunehmen ist (wobei die Richtigkeit dieser Annahme wie oben gezeigt durchaus umstritten ist), dass die hieraus gewonnenen Entgelte einen Angriffskrieg mitfinanzieren. Im Hinblick auf den Schutz des Lebens (z.B. von ukrainischen Zivilisten) wäre jedoch fragwürdig, inwieweit eine solche weite und mittelbare Anwendung von der ratio des Abkommens, das in erster Linie Wirtschaftsbeziehungen ausgestaltet, umfasst sein kann. So könnte argumentiert werden, dass mit dem Schutz des Lebens nur auf Staatsangehörige der Abkommenspartner referiert wird, wofür auch die Systematik spräche (Schutz des nationalen Kulturguts als weiterer Derogationsgrund).

Die aufgeworfenen Fragen können jedoch dahinstehen, insofern Artikel 99 des Abkommens geeignetere Derogationsanknüpfungspunkte bereithält. Gemäß der Norm hindert das Partnerschaftsabkommen eine Vertragspartei nicht daran, alle Maßnahmen zu ergreifen, 1 . die sie zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen für notwendig erachtet: […] d) im Falle schwerwiegender innerstaatlicher Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, im Kriegsfall, bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung oder zur Erfüllung von Verpflichtungen, die sie zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen hat. Hier kann man sich der vom EuGH im Fall Rosneft geäußerten Ansicht anschließen, dass der Wortlaut der Bestimmung nicht verlangt, „dass sich der "Krieg" oder die "ernste internationale Spannung, die eine Kriegsgefahr darstellt" auf einen Krieg bezieht, der das Gebiet der Europäischen Union unmittelbar betrifft“. So kann in einem weiten Verständnis der Norm das deutsche Sicherheitsinteresse durch den Krieg in der Ukraine etwa dadurch als berührt angesehen werden, als dass der Angriff Russlands auf einen ehemaligen Bestandteil der UDSSR weitere Angriffe auf Staaten der ehemaligen UdSSR wie z.B. die baltischen Staaten jedenfalls denkbar erscheinen lassen, mit denen Deutschland über die europäische, wie auch NATO-Sicherheitsstruktur verbunden ist.

2.2.4 Internationales Handelsrecht

Unilaterale Maßnahmen Deutschlands gegen ein Unternehmen eines oder unmittelbar gegen einen Vertragsstaat des internationalen Handelsrechts, genauer des GATT, könnten sich als unzulässig entpuppen. Mengenmäßige Beschränkungen sind gemäß Art. XI GATT verboten. Nichts anderes stellt etwa ein Importembargo dar. Entsprechende Maßnahmen könnten jedoch nach Art. XX GATT gerechtfertigt werden. Unbeschadet einer Prüfung des sog. Chapeau für allgemeine Ausnahmen ist keine einschlägige allgemeine Ausnahme ersichtlich. Ausdrücklich sieht das Abkommen aber die Sicherheit der Nationalstaaten betreffende Ausnahmen vor. Demnach sind die Nationalstaaten nicht daran gehindert, die Maßnahmen zu treffen, die sie zum Schutze ihrer Sicherheit (Art. XXI lit. b GATT), in Kriegszeiten oder im Falle einer anderen ernsten internationalen Spannung (Art. XXI lit. c GATT) für erforderlich halten. Ebenso wenig sind Maßnahmen untersagt, die der Erfüllung der Verpflichtungen auf Grund der Charta der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit zu dienen, vgl. Art. XXI lit. c) GATT. Zumindest Letzteres steht unter den oben beschriebenen Vorbehalten unilateraler Maßnahmen ohne entsprechendes UN-Mandat.

Maßnahmen im Sinne des Art. XI GATT sind überdies unter dem Investitionsschutzabkommen des Energy Charter Treaty untersagt, vgl. Art. 5 Abs. 1 ECT. Zum einen verweist Art. 5 Abs. 1 ECT jedoch auf hiervon unberührte Rechte und Pflichten unter dem Recht der WTO. Zum anderen sieht Art. 24 Abs. 3 ECT selbst Ausnahmen vom Verbot vor. Hierunter fallen auch Maßnahmen, die ein Vertragsstaat für erforderlich erachtet, (Art. 24 Abs. 3 lit. a) ECT) für den Schutz seiner essentiellen nationalen Sicherheitsinteressen, insbesondere (Art. 24 Abs. 3 ii ECT) in Kriegszeiten, bewaffneten Konflikten oder anderen Notfällen in internationalen Beziehungen.

2.2.5 Zwischenfazit

Die Ausführungen zeigen, dass unbeschadet einer genauen Ausgestaltung etwaiger Maßnahmen, Sanktionen mit Auswirkungen auf NordStream 1 und 2 und die hierüber laufenden Gaslieferungen rechtlich zulässig sein können. Einschränkungen unmittelbar im Rahmen der privatrechtlichen Rechtsbeziehungen erscheinen abseits der parallel bestehenden staatlichen Maßnahmen ausgeschlossen. Hingegen können unilaterale Maßnahmen Deutschlands durchaus rechtlich zulässig ausgestaltet werden. Dabei ist die Einordnung der Maßnahmen als unilaterale Sanktionen im Kontext des internationalen Rechts der Staatenverantwortlichkeit oder als unilaterale Maßnahmen im Sinne des internationalen Handelsrechts zunächst nicht bedeutsam. In beiden Fällen handelt es sich um eine rechtlich zulässige Ausgestaltung, jedenfalls unter Anwendung von Ausnahmegründen.

2.3 Rechtsfolgen

Die Einordnung möglicher Maßnahmen Deutschlands als grundsätzlich rechtlich zulässig ändern im Weiteren nichts daran, dass mögliche weitere rechtliche Implikationen mit ihrer Anwendung einhergehen. Hier soll in der gebotenen Kürze aufgezeigt werden, welche Optionen als (zulässige) Reaktionsmaßnahmen für Russland angesichts der angenommenen deutschen Maßnahmen zur Hand stehen. Damit wird sogleich die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit solche Maßnahmen zum Rechtsfrieden beitragen.

2.3.1 (Gegen-) Maßnahmen & IGH

Es ist wohl keine allzu gewagte These, anzunehmen, dass Russland auf Sanktionen mit eigenen Sanktionen und Gegenmaßnahmen reagieren würde. Es steht zu erwarten, dass Russland für sich in Anspruch nimmt, dass es sich bei eigenen Maßnahmen gegen die Maßnahmen von Deutschland um völkerrechtlich zulässige Gegenmaßnahmen im Sinne des Art. 49 Abs. 1 ILC handelt. Freilich setzt dies – wie vorab erläutert – voraus, dass es sich bei den Maßnahmen um eine Reaktion auf völkerrechtswidriges Verhalten handelt. Es ist absehbar, dass Russland etwaige unilaterale Maßnahmen Deutschlands sogleich selbst als völkerrechtswidriges Verhalten abstempelt und sodann mit eigenen Sanktionen und Gegenmaßnahmen reagieren würde. Die Folge wäre ein Ping-Pong der Maßnahmen und Gegenmaßnahmen. Dabei bliebe eine abschließende Streitklärung der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit vor dem Internationalen Gerichtshof bis zur Zustimmung durch beide Streitparteien aus, vgl. Art. 36 Abs. 1 Alt. 1 IGH Statut. Es droht somit vielmehr ein Schlagabtausch, womöglich gar ein Hochschaukeln, der Maßnahmen.

2.3.2 WTO & DSU

Eine Streitbehandlung unilateraler Maßnahmen wäre unbeschadet dessen im Rahmen des Streitbeilegungsmechanismus der WTO möglich. Für die Einleitung der Streitbeilegung bedarf es hier nicht der Zustimmung aller Streitparteien. Vielmehr genügt die Forderung einer beschwerenden Partei, vgl. Art. 6 Abs. 1 DSU. Mit dem sodann einzuleitenden Verfahren vor dem WTO-Panel oder ein gegebenenfalls anschließendes Verfahren vor dem Appellate Body (vgl. Art. 17 DSU) kann grundsätzlich eine verbindliche Streitlösung im Rahmen des Handelsrechts gefunden werden. Aufgrund einer anhaltenden Blockade zur Nachbesetzung des WTO-Appellate Body ist eine letztverbindliche Rechtsklärung von Handelsstreitigkeiten und damit auch hierunter fallender unilateraler Maßnahmen derzeit ausgeschlossen. Es ist gerade das zweistufige System der Streitbeilegung in der WTO, bestehend aus Panel und sodann dem Appellate Body, das zur abschließenden Klärung von handelsrechtlichen Streitfragen beigetragen hat. Ohne funktionierenden Appellate Body kann hier kein Rechtsfrieden erwirkt werden. Die bestehenden Übergangslösungen ändern an der durch die Blockade erreichten Dysfunktion des Appellate Body und der Streitbeilegung im WTO-Recht insgesamt nichts.

2.3.3 Energy Charter Treaty

Einen Streitbeilegungsmechanismus sieht auch der ECT vor. Art. 26 ECT eröffnet dem Investor verschiedene Möglichkeiten der Streitbeilegung, insbesondere vor den nationalen Gerichten der streitenden Vertragspartei und im Rahmen von internationalen Schiedsverfahren. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Investor in einem Staat, der Vertragspartei zum ECT ist, seinen Sitz hat. Jedenfalls für Gazprom ist dies mit Zweifeln behaftet. Gazprom hat, wie bereits oben festgehalten, anders als die NordStream AG seinen Sitz in Russland. Dessen Mitgliedsstatus zum ECT ist jedoch fraglich. Russland hat den ECT unterschrieben allerdings nie ratifiziert. Im Jahr 2009 hat Russland zudem offiziell darüber informiert, dass es den ECT nicht ratifizieren wird. Im Rahmen der Streitigkeit Yukos unter dem ECT wurde ausgehend von einer provisorischen Anwendung des ECT durch Vertragsparteien vor der Ratifizierung des Vertrages eine Anwendung des ECT auch für Russland festgehalten. Gemäß Art. 45 Abs. 3 ECT bindet eine provisorische Anwendung des ECT den Staat für weitere 20 Jahre an das Investitionsschutzabkommen. Ungeachtet des Streits, ob tatsächlich eine provisorische Anwendung des ECT durch Russland vorlag, erscheint jedenfalls bei Anwendung des Art. 45 Abs. 3 ECT der Zugang zur Schiedsgerichtsbarkeit durch Gazprom im Falle von unilateralen Maßnahmen, mit Auswirkungen auf ihre Investitionen in Deutschland, nicht ausgeschlossen. Ohnehin ist für die NordStream AG mit Sitz in der Schweiz eine Anwendung des ECT und damit der Zugang zu Schiedsverfahren grundsätzlich eröffnet. In der Tat würden damit die womöglich Fragen, die im Kern die Beziehungen der Nationalstaaten und der internationalen Staatengemeinschaft betreffen, in Investitionsstreitigkeiten ausgelagert werden.

3. Schlussfolgerung  

Die Kurzdarstellung der multipolaren Rechtsbeziehungen, betroffenen Rechtsbereiche und möglichen Rechtsfolgen zeigt, dass Maßnahmen gegen Russland bzw. NordStream durchaus zulässig sein können. Dabei gilt jedoch, dass Sanktionen angesichts ihrer zweifelhaften Wirksamkeit stellenweise kritisch gesehen werden. Wenngleich ungeachtet des Mangels eines UN-Mandats unilaterale Maßnahmen zulässig sein können, so sind diese als Ausnahme rechtfertigungsbedürftig. Eine Rechtssicherheit ist in dieser Hinsicht angesichts Russlands Abkehr von den Grundsätzen des internationalen Rechts und der rule of law sowie bestehender Hürden in den einschlägigen Rechtsbereichen auch nach Beendigung des Konfliktes nicht garantiert. Allenfalls im Rahmen des Energy Charter Treaty und des hiermit eröffneten Zugangs zur Schiedsgerichtsbarkeit könnte eine abschließende Rechtsklärung erreicht werden. Dies wiederum befeuert die ohnehin bestehende Diskussion zur Einordnung von NordStream und NordStream 2 als ausschließlich private Investitionen. Die Interdependenzen und Grenzziehungen zwischen internationalen Beziehungen, Geopolitik und den Rechtsinteressen international agierender Unternehmen ist an anderer Stelle zu untersuchen.

 

 

[1]Hafner, ZaöRV 76 (2016) 403.

[2]Hafner, ZaöRV 76/2016, 391  (403).

[3]Hafner, ZaöRV 76/2016, 391  (396).

[4]Hafner, ZaöRV 76/2016, 391  (403).

[5] Hafner, ZaöRV 76/2016, 391 (410).

[6] Vgl Hafner zur Problematik von targeted sanctions, Hafner, ZaöRV 76/2016, 391 (407).

[7] EuGH, Urteil vom 28.03.2017, C‑72/15, Rn 148.

[8]https://www.tagesschau.de/wirtschaft/gaspipelines-kapazitaeten-101.html, 30.04.2022

[9]Hafner, ZaöRV 76/2016, 391 (398).

 

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Die Konstruktion von Russlands Kriegsidentität "Z"

IFZO-Podcast Spezialfolge

Die russische Propaganda hat im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die in westlichen Medien vielbeachtete Verwendung des Buchstabens „Z“ forciert und mit vielerlei Bedeutungen aufgeladen. Die IFZO-Expertinnen Anna Novikov und Anna Efremowa sprechen ausführlich über russische Propaganda und die Verwendung des Buchstaben "Z" sowie den verschiedenen Identifikationen, die damit verbunden werden.

PLAY ▶ – Die Konstruktion von Russlands Kriegsidentität "Z"

Credits - Intro/Outro:

Credits - Intro/Outro:

Musik: "Hafentor" mit freundlicher Genehmigung von "Lupus in Fabula".
Möwen:  "Seagulls close-up" by juskiddink on freesound.org (CC BY 3.0).

Der Podcast ist unter der Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) verfügbar.


Das Z-Symbol und seine Geschichte

Radiointerview mit Anna Novikov, 01.04.2022

Die russische Propaganda hat im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die in westlichen Medien vielbeachtete Verwendung des Buchstabens „Z“ forciert und mit vielerlei Bedeutungen aufgeladen. In einem Radiointerview mit Bremen 2 entschlüsselt IFZO-Expertin Anna Novikov die verschiedenen Bedeutungen von За победу bis Запад und ordnet die Bedeutungen auch historisch ein.

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The Russian invasion of Ukraine

By Brendan Simms, Suzanne Raine & Donatas Kupciunas from the "Centre for Geopolitic" at the University of Cambridge

The Russian invasion of Ukraine, which began with the annexation of the Crimea and support for separatist movements in two eastern regions of Donetsk and Luhansk, has now culminated in a direct full-scale military assault on the entire country. Whatever one makes of the rights and wrongs of this conflict - and the invasion is certainly a massive breach of international law – it is the job of the Centre for Geopolitics to provide analysis and explanation. ➤

➤ Lesen Sie den vollständigen Artikel auf der Seite des Centre for Geopolitics


Unterstützung für ukrainische Wissenschaftler und Studenten - Liste mit gesammelten Informationen

Vom Baltic University Programme

Das Baltic University Programme hat eine Liste mit verschiedenen Initiativen in Europa und dem Rest der Welt zusammengestellt, die den vom Krieg in der Ukraine betroffenen Wissenschaftler*innen helfen sollen.

Die Baltic Science Bridge ist eine Initiative zur Unterstützung von ukrainischen Wissenschaftler*innen, die aufgrund des Krieges nicht arbeiten können. Geleitet wird die Initiative vom assoziierten Sekretariat des BUP an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Die Baltic Science Bridge soll ukrainischen Wissenschaftler*innen die Möglichkeit geben, in einem Ostseeland zu leben und wissenschaftlich zu arbeiten, das nicht Teil des Konflikts ist. Lesen Sie hier mehr über die Initiative.

 


Ukraine - over 1000 years of history

Ein Artikel der Universität Gdansk

In 1991, the Ukrainian Soviet Socialist Republic ceased to exist and Ukraine declared its independence, and Poland was the first country to recognise this act. Since then, there has been a process of Polish-Ukrainian reconciliation, which, despite difficult periods and disputes over history, has continued, as we have seen in recent days. Dr hab. Magdalena Nowak, prof. UG from the Department of Modern Polish History, Institute of History, Faculty of History, UG, reminds us about the history and history of Ukraine. ➤

➤ Lesen Sie den vollständigen Artikel unter: https://ug.edu.pl/news/en/2830/ukraine-over-1000-years-history

- Ewa K. Cichocka / Press Office University of Gdansk


Time for heroes?

14.03.2022

Screenshot from "zelenskiy_official"-Instagram page, showing president Zelenskiy. (https://www.instagram.com/p/CbCxjcSgLWW/)

The last few weeks of fighting in Ukraine have produced new heroes. In fact, wars have always produced heroes. Ukraine’s president Volodymyr Zelensky, who has remained in Kyiv during the Russian aggression is seen as a hero, whose heroism is manifested by his courage and masculinity. The Ukrainian border guards on Snake island, who sent the Russian warship to go “f**k themselves” and firstly were thought to have been killed, have appeared as heroes, partially because of social media memes and rapid integration into the popular culture. It seems that during this tragic and horrendous war, the outcome of which remains unpredictable, many others will be celebrated as heroes. Is it a time for heroes and heroism? ➤

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➤ What is a hero? This is indeed a difficult question to answer. Heroes do not exist on their own. Heroes are made – in our time, particularly through images and they need someone to recognise and venerate them as such. Yet, almost always the heroes and their deeds can be easily contested. Joan of Arc is a hero for the French and has been a symbol of their national identity for centuries, but she was an enemy for the English and also, at times, for the Catholic Church, therefore she was burnt at the stake. The actions of an illiterate peasant woman who dressed as a man and fought on the battlefield were seen as heroic acts by some and heresy by others. Sometimes heroes easily become antiheroes or even worse – they suddenly are no more heroes and get forgotten. Pavlik Morozov, a thirteen-year-old peasant boy who denounced his father to Cheka for stacking grain and therefore was killed by his family, was a Soviet hero, highly praised and venerated; after the collapse of the USSR, this communist martyr is seen as rather an example of misfortune and cruelty of a totalitarian system. During the twentieth century the European societies have experienced construction and vanishing of numerous heroes, who have been supported by authoritarian and totalitarian systems and forgotten quickly when the regimes had waned away.

Once again, wars makes heroes. Alexander Nevsky, the thirteenth-century Russian duke and military leader, has become an Orthodox saint yet he became known already in the Middle Ages because of his victories against the Swedes at Neva (1240) and the Teutonic Order at the Battle on the Ice (1242). Alexander Nevsky, who possibly is one of the best researched medieval heroes, has had a centuries-long career: from a protagonist in the medieval chronicles and hagiographies, to becoming the patron saint of the Russian Empire, a Soviet hero during the Second World War with his own movie made by Sergei Eisenstein and finally being a most famous historical figure in modern-day Russia, with numerous monuments erected. A medieval man embodies in himself many meanings and usages that have nothing to do with the historic context this man lived in. But many different historical contexts found him useful as a hero.

Because the heroes can inspire and mobilise and are used as role models to be imitated, they are problematic. Heroes can be used and abused in many ways in service of ideologies and propaganda, especially those, who have died long ago. German sociologist Ulrich Bröckling in his book Postheroische Helden (2020) argues that the age of historical heroes, almighty, coreagous men, is gone and we have reached the post-heroic age. The post-heroic heroes are questioned and deconstructed.

The war in Eastern Europe now is creating heroes – military ones and martyrs. The act of heroism can be the death of a young soldier during the defence of a Ukrainian city against the invaders; meanwhile also a woman who protests against the war in Russia by holding a blank placard can be seen as a hero, because such a simple act may have dire consequences.

 The war is waking up historical heroes as well. This is a time to look at heroes in the past, to research them carefully, to understand better the emergence of heroes and heroes and heroic figures in the present. Our project: “Saints and Heroes from Christianization to Nationalism: Symbol, Image, Memory (Nord-West Russia, Baltic and Nordic countries)” was intended to research and deconstruct medieval heroes in their afterlife, yet the war has stranded the cooperation with fellow scholars from the Saint-Petersburg State University. The work of deconstructing heroes and questioning them will not be stopped though.

- Gustavs Strenga


Das Energie-Trilemma im Ostseeraum: Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit in Zeiten von Krieg und Krise.

04.03.2022

Photo by Karla Hartmann

Die russische Invasion in die Ukraine wirft eine Reihe von Energiefragen für die Staaten des Ostseeraums auf. Die Verflechtung der Region mit den ukrainischen und russischen Energiesystemen und die bedeutende Stellung Russlands auf den globalen Energiemärkten im Allgemeinen bedeuten, dass die Invasion sekundäre Auswirkungen auf die regionale Energiepolitik haben wird. Die Aussetzung des Zertifizierungsverfahrens für Nord Stream 2 durch Deutschland unter Berufung auf Verstöße gegen das Völkerrecht - die vielleicht bedeutendste Manifestation der energie- und geopolitischen Spannungen zwischen den Staaten der Region - stellt die bisher greifbarste Auswirkung auf die regionalen Energieprogramme dar, doch die Folgen des anhaltenden Konflikts werden wahrscheinlich noch weitreichender sein. ➤

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➤ Die Besorgnis über die Sicherheit und Erschwinglichkeit der Versorgung dürfte die energiepolitischen Reaktionen bestimmen. Die derzeitige Schwierigkeit, den Transit von Lieferungen durch die Ukraine zu gewährleisten, die kontinuierliche Versorgung mit russischem Gas und Öl sicherzustellen und gegebenenfalls alternative Quellen auf dem Markt zu finden, sind allesamt unmittelbarere politische Ziele, um die Sicherheitsbedenken zu mindern, insbesondere für Staaten mit einer höheren Importabhängigkeit. Deutschland zum Beispiel hat schnell gehandelt und ein neues Ziel von 100 % erneuerbarem Strom bis 2035 vorgeschlagen, auch die Aussetzung verschiedener Programme zur Schließung von Kernkraftwerken und Kohlebergwerken ist angedacht. Mecklenburg-Vorpommern erwägt  die Auflösung der Stiftung für Klima- und Umweltschutz, einer von der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns gegründeten, aber fast vollständig von Gazprom finanzierten Organisation zur Unterstützung von Nord Stream 2. Deutschland hat - wie die meisten Staaten der Region - weitreichende EU-Sanktionen unterstützt, einschließlich solcher gegen Personen mit engen Verbindungen zum Energiesektor. Die Bereitschaft der Verbraucherstaaten in der Region, trotz der wahrscheinlichen Nachteile im eigenen Land Sanktionen gegen russische Energieakteure zu verhängen, könnte darauf hindeuten, dass die umfassenderen Sicherheitsrisiken die potenziellen wirtschaftlichen und politischen Risiken überwiegen. Ein umfassendes Embargo für russische Energieimporte ist jedoch nicht in Sicht.   Dies stellt eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Pragmatismus dar, der die Ost-West-Energiebeziehungen während des Kalten Krieges bestimmte, und deutet darauf hin, dass ein solcher Schritt nur als allerletztes Druckmittel in Frage käme.

Nichtsdestotrotz könnten die Fragen nach der Erschwinglichkeit und der Versorgung in den kommenden energiepolitischen Debatten eine wichtige Rolle spielen. Der Konflikt und die sich daraus ergebenden Sanktionen dürften die ohnehin schon hohen Energiekosten für private und gewerbliche Verbraucher weiter in die Höhe treiben. Die Umsetzung der von Deutschland vorgeschlagenen neuen Strategie für erneuerbare Energien wird ebenfalls beträchtliche Vorabinvestitionen erfordern, und diese Kosten werden zusammen mit der erwarteten Erhöhung der Energiepreise die Debatte über eine gerechte Energiewende wieder anheizen. Wie diese Kosten finanziert werden sollen, ist bislang unklar. Der versprochene Sonderfonds für die Bundeswehr und die derzeitige Zusage der Regierung, keine Steuern zu erhöhen, werden ebenfalls zu einer schwierigen Debatte im Parlament führen.

Gleichzeitig bleibt die Unverzichtbarkeit von Kohlenwasserstoffimporten insbesondere für den Verkehrs- und Wärmesektor unverändert bestehen. Die Rolle von Erdgas in der Energiewende wird wahrscheinlich nur wenige Wochen nach der Erklärung der EU, dass Erdgas ein Brückenkraftstoff für die Energiewende ist, erneut diskutiert werden. Die Quelle und die Route, über die Erdgas importiert wird, werden im Mittelpunkt jeder neuen Debatte stehen, wobei die Vermeidung russischer Quellen und von Routen durch potenziell instabile Länder notwendig ist, um die Energiesicherheit zu erhöhen. Mehrere regionale Staaten haben bereits Schritte in diese Richtung unternommen: Polen und Litauen verfügen über relativ umfangreiche LNG-Verarbeitungs- und -Speicheranlagen, während die baldige Eröffnung der Gasverbindungsleitung zwischen Polen und Litauen im Laufe dieses Jahres die drei baltischen Staaten und Finnland zum ersten Mal in das EU-Gasnetz einbinden und von der alleinigen Abhängigkeit von russischem Gas befreien wird. Die Rolle von Erdgas im Wärmesektor zu überdenken, ist eine weitere wahrscheinliche Überlegung für die politischen Entscheidungsträger;  in den letzten Jahren gab es bereits vermehrt Tendenzen, sich für die direkte Elektrifizierung dieses Sektors einzusetzen.

Zusammengenommen deuten diese Überlegungen auf eine bevorstehende Auseinandersetzung mit dem "Energie-Trilemma" für die Ostseeanrainerstaaten hin: die Notwendigkeit, Energiegerechtigkeit, Energienachhaltigkeit und Energiesicherheit zu berücksichtigen und auszubalancieren. Gegenwärtig liegt der Schwerpunkt auf erneuerbaren Energien und der Bewirtschaftung einheimischer Ressourcen als Hauptpfeiler der Versorgungssicherheit, doch werden diese Bemühungen wahrscheinlich durch die Kosten und die Notwendigkeit kurzfristiger Kohlenwasserstoffverträge zum Ausgleich von Engpässen an anderer Stelle abgeschwächt werden. Die derzeitige Situation wird daher auch zeigen, wie Sicherheit, Energiewende, Energiepreise und sozialer Wohlstand zusammenhängen. Wo und wie die Regionalregierungen den einzelnen Bereichen den Vorrang geben, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersagen. Neue Importpartner, Kooperationsmuster und Mechanismen zur Regulierung des Energiehandels werden wahrscheinlich entstehen, wenn die Staaten versuchen, sich von den russischen Energiequellen weg und hin zu neuen erneuerbaren Energien, Wasserstoff und insbesondere LNG-Handel zu diversifizieren. Kurzum, die von den regionalen Regierungen verfolgte Politik und die langfristigen Auswirkungen der Invasion auf die regionalen Energiesysteme könnten zu einer erheblichen Umgestaltung der regionalen Energiepolitik beitragen.

- Mary Keogh, Michael Kalis und Judith Kärn


Wissenschaft in Kriegszeiten – lokale Kompetenzen und internationale Verbindungen

03.03.2022

Seit einer Woche herrscht Krieg. Osteuropa und die gesamte Region des erweiterten Ostseeraums sind politisch so aktuell wie seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der viele, auch die Bundesregierung mit ihren umfassenden energie- und wirtschaftspolitischen Verflechtungen, überrascht hat, hat die gesamte Region vor die Frage gestellt, wie eine Post-Kriegs-Ordnung aussehen könnte – eine Frage, die bisher niemand beantworten kann oder mag. ➤

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➤ Die Verurteilung Russlands in dieser Frage ist ebenso einhellig wie umfassend, was gut und wichtig ist. Gleichzeitig werden Prinzipien der gesamten Nachkriegszeit im ganzen Ostseeraum innerhalb kürzester Zeit und über alle politischen Lager hinweg in Frage gestellt oder ganz über Bord geworfen: Deutschland erhöht seinen Militäretat um schwindelnde 100 Mrd. Euro, um „seiner Bedeutung in der Welt gerecht zu werden“, in Finnland diskutiert das Parlament erneut über einen NATO-Beitritt, Schweden gibt das Prinzip der Neutralität zugunsten Waffenlieferungen an die Ukraine auf, Polen und Ungarn öffnen die Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine … Viele Gewissheiten sind in der vergangenen Woche verschwunden, neue gibt es noch nicht.

In all diesen Veränderungen bleibt es fundamental wichtig, historisches, kulturelles, sprachliches und politisches Wissen über die gesamte Region zu sammeln, zu schaffen und weiterzugeben. Der Lehrstuhl für Ukrainistik trägt dazu genauso bei wie die Slawistik und die anderen Philologien des Ostseeraums sowie wie Lehrstühle für nordische und osteuropäische Geschichte. Dieses Wissen fließt in die interdisziplinären Forschungen über Energieversorgung, Sicherheitsarchitektur, kulturelles Erbe und Nationalismen ein. Wir forschen und lehren über die gewachsenen Verflechtungen des Raums, ihre Chancen und Gefahren. Wir können Begriffe wie Entnazifizierung, Imperialismus und Faschismus historisch einordnen und kontextualisieren, damit sie nicht zu bloßen Propagandabegriffen verkommen.

Für dieses Wissen benötigen wir Kontakte mit und Zugang zu Kolleg*innen, Institutionen und Einrichtungen im gesamten Ostseeraum. Unsere volle Solidarität gilt denjenigen, die vor Krieg und Gewalt aus der Ukraine und anderen Ländern fliehen müssen und deren Leben sowie akademische Freiheit bedroht sind. Sie gilt auch den Kolleg*innen und Studierenden in Russland, die trotz der schweren Repressionen sichtbar und unsichtbar Widerstand leisten gegen ein autokratisches Regime, das die Region in den Krieg gestürzt hat. Kontakt mit ihnen muss weiterhin möglich sein, um auch in Zukunft die drängenden Fragen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Ostseeraum beantworten zu können.

- Wissenschaftler*innen des IFZO


Geopolitics in times of Crisis: German-Baltic strategies aligning at last?

02.03.2022

Photo by Chuko Cribb on Unsplash

The invasion of Ukraine is at the end of a long chain of warnings that the Baltic States have been carrying into the political heart of Europe for decades. Speaking at the Hanseatic city of Hamburg in 1994, Estonian President Lennart Meri stunned the gathered dignitaries with a dire proclamation. Turning to the German political classes, he submitted that due to Estonia’s close proximity to Russia, the nation had developed a stronger instinct than the rest of the West when it comes to the threats looming from Moscow. In his view, Germany and Europe at large stood before a fateful choice: “Either the neo-imperialist policy of a great eastern power will be tolerated, financed, and in the short term, possibly even profited from […] or the notions of democracy, freedom, responsibility and peace will be helped”. A certain junior official from St. Petersburg, so enraged by the speech, had stormed out of the room. His name was Vladimir Putin. ➤

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➤ A certain paradox has pervaded the German-Baltic relations for decades. Tightly linked through culture, art, education and genuine societal affinity for each other, in the realm of military power the two sides could not be further apart. Where over the years German leadership talked about the notion of perpetual peace and positive transformation through trade, the Baltic states, in stark contrast, stuck to the worldview of military power playing a central role in human affairs. At a time when Western Europe kept extending an olive branch to Russia, Eastern Europeans asserted that one day this will be instrumentalized by the Kremlin for its own geopolitical ends. The prevailing view among the Baltic lawmakers regarding Germany has been one of a country that mistakenly bought into a certain end-of-history paradigm.

As the Russian troops began to ominously encircle Ukraine’s borders, these sharply different worldviews spilled into the open, straining the otherwise excellent German-Baltic relations. Latvian Defense Minister was first to roil the diplomatic waters by slamming German officials in the international press: “They’ve been living in peace for years. They think about gas, exports and co-operation. For us border countries, it’s different. For us it’s existential. Our past doesn’t give much chance of just trusting [Russia]. It would be death for us.” After Berlin blocked the Estonian government’s attempts to transfer Cold War-era howitzers to Ukraine, scornful mumblings about Putinverstehers filled the hallways of Baltic ministries.

The initial German response to the Ukraine crises invoked unpleasant memories. For example, in the aftermath of the Russo-Georgian conflict in 2008, Estonia, Latvia, and Lithuania had pressured NATO to develop specific military contingency plans for their territorial defence. Behind the public curtain, Germany proceeded to block the resolution on the grounds that this would be too provocative towards Russia. Only after repeated insistence by Washington did Germany drop its veto. The notion of the German government as an unreliable security partner, however, took a stronger root.

With the Russian efforts now underway to brutally dismember Ukraine, there is a great deal of “we told you so” coming out of the Baltic republics. That said, now is not the time to engage in a self-serving political point-scoring. The naked truth is Estonia, Latvia and Lithuania need Germany as a security actor more than ever. The Estonian Prime Minister once aptly summarized the Baltic predicament: “We have the friends we have, and we cannot push them away. And if we say we don’t need you anymore, then it might end in a place that is very, very lonely. We have already been there if you look at our history. We don’t want to be there anymore.”

In a sweeping change, the German government has now undertaken a host of decisions: nullification of the Nord Stream 2, considerable increase of the defence budget, adoption of a massive sanctions package against Russia, and arming of Ukraine. Even a single of the listed policy items would have previously been considered as a significant crossing of the threshold. Combined, they give the impression of a country undergoing a tectonic shift in its assumptions about Russia. In a matter of days, Vladimir Putin has managed to discredit decades-held orthodoxies about the Russian Federation. Observing these decisions by Berlin, Baltic political elites have been supportively nodding along.

By the looks of it, Germany and Europe writ large is undergoing a major strategic course correction. Latest polls suggest that 78% of Germans are on board with the government’s proposal to significantly increase defense spending. Three decades after the fall of the Berlin wall, threat perceptions are finally converging across the Baltic Sea region. This, of course, should be tempered by the fact that many disagreements still abound about exactly how to structure such dramatic increase in military financing. Moreover, one ought to remain cautious regarding the speed with which genuine change can be ushered in. Addressing the Bundestag, Chancellor Olaf Scholz urged: “We need planes that fly, ships that sail, and soldiers who are optimally equipped for their missions”. That, to be fair, will take time to fully materialize. To provide one illustration, in 2021 France, Germany and Spain announced plans to develop a European-based fighter jet. Realistically, Europeans will see them in the sky by 2040. In the foreseeable future, Europe will remain highly dependent on the US security umbrella. At the current moment, however, the most pressing issue for Europe should be the firm backing of Ukraine. After all, to borrow words from the Ukrainian national anthem: “Ukraine’s freedom has not yet perished”.

- Dr. Andris Banka


Auf der Grenze

25.02.2022

Menschen demonstrieren in Tallinn, Estland, gegen den russischen Krieg in der Ukraine. Photo by Dagnija Samsone on Unsplash.

Die Invasion russischer Truppen in die Ukraine wirft auch jenseits des beispiellosen Bruchs des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung weitergehende Fragen auf. Einigkeit herrscht darüber, dass mit der Rede Wladimir Putins am 21.02.2022 sowie der formal erfolgten Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk das Minsker Abkommen aufgekündigt wurde. Mit dem heutigen Tag wurde nun auch das Budapester Memorandum aus dem Jahre 1994 beendet, in dem die Ukraine alle atomwaffenfähigen Waffen abgibt und im Gegenzug u.a. militärische Besatzungen ausgeschlossen und die territoriale Unversehrtheit sowie politische Unabhängigkeit durch Russland, Großbritannien und die USA anerkannt wurde. Wie viele derzeitigen Aktionen Putins verdeutlichen, möchte er die Folgen der als Ausdruck von Schwäche empfundenen Politik der Öffnung unter Michail Gorbatschow nach 1989 korrigieren – nicht zuletzt mit den Mitteln der Geschichtsrevision und nationalen Geschichtskonstruktion. ➤

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➤ Diese antagonistische Mythografie wirkt sich auch auf die wirtschaftlichen und energiepolitischen Fragen aus, wie die Argumentation für die Umgehung der Ukraine beim Bau von Nord Stream 2 zeigt. Auch die Tatsache, dass eine radikale Beschränkung der Finanz- und Energiemärkte als Sanktion gegen Russland kaum durchzusetzen ist, zeigt die Verflochtenheit der Region durch energiepolitische und ökonomische Interessen. Die pro-europäische und pro-demokratische Orangene Revolution von 2004 sowie die Euro-Maidan Proteste 2013 strafen die Behauptung allerdings Lüge, es handle sich in Kiew um ein faschistisches Regime. Der Begriff der „Entnazifizierung“ stellt die Invasion in die Ukraine in eine historische Kontinuität mit der Befreiung Europas vom deutschen Nationalsozialismus – eine traurige Umkehrung und Infragestellung der historischen Leistung der Alliierten, auch Russlands, im 2. Weltkrieg.

Was bedeutet der russische Angriff für den Ostseeraum? Lassen sich mit diesem Akt der Infragestellung der Unabhängigkeit der Ukraine als Nation Rückschlüsse auf die Befürchtungen der baltischen Staaten ziehen? Zwar haben diese im Gegensatz zur Ukraine bereits nach 1918 ihre erste staatliche Souveränität erlangt und sind inzwischen auch bereits NATO-Mitglieder, jedoch sind sie durch die Okkupation in den 1940er Jahren und die Sowjetisierung einer weitgehenden Russifizierung unterzogen worden, so dass auch hier kulturelle, sprachliche, religiöse und erinnerungspolitische Differenzen zu finden sind. Auch hier leben russischsprachige Minderheiten. Möchte man Geschichte großformatig revidieren, ließe sich schließlich bis zur Schlacht von Poltawa 1709 zurückgreifen, die die schwedische Vormachtstellung zugunsten des zaristischen Russlands beendete, um heute eine vermeintliche russische Dominanz im Ostseeraum zu begründen. Mit historischen Grenzen und deren Verschiebung ließe sich eine Vielzahl machtpolitischer Anachronismen begründen.

Das derzeitige durch Putin vermittelte Geschichtsbild wie auch die nicht durch das Völkerrecht gedeckte Aberkennung territorialer und staatlicher Existenz stellt eine beispiellose Instrumentalisierung von Geschichtspolitik zur Legitimierung eines Angriffskrieges dar. Dies hat nicht nur langzeitige Auswirkungen auf Diplomatie, internationales Recht und Europa selbst, sondern stellt auch eine Herausforderung für die Geschichts-, Kultur-, Energie- und Politikwissenschaft dar. Es handelt sich um einen Einschnitt, der Neubewertungen der Verbindung von Energie- und Außenpolitik im Ostseeraum, die nicht nur in Hinblick auf Nord Stream 2 und Interpretationen der Sicherheitsarchitektur nach sich ziehen wird. Vielmehr werfen Putins Interpretationen Fragen nach dem schwierigen Umgang mit der gemeinsamen oder eben teilenden Geschichte und Kultur in einem heterogenen Kulturraum auf. Grenzen stellen nicht nur Symbole und faktische Markierungen territorialer Abgrenzungen dar, sondern bedeuten auch kulturelle, historische und gesellschaftliche Grenzziehungen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen haben, die in diesen Räumen leben. Kriege führen unweigerlich zum massenhaften Verlust von Menschenleben, aber auch zur Zerstörung von Kulturgütern, von Sprache, Minderheitenrechten und der unabhängigen Entwicklung politischer und sozialer Formen der Teilhabe. Die ukrainische Staatsgrenze, die sie als souveränen Staat in Europa auszeichnet, steht allerdings nicht zur Verhandlung und Interpretationsfreiheit.

- Antje Kempe (in Zusammenarbeit mit Cordelia Heß, Frank Rochow und Alexander Drost)