Kickoff Workshop – Neue Nationalismen

New Nationalisms in the Baltic Sea Regions

Bericht

Am 13. Mai adressierte der Kickoff-Workshop des Clusters „Neue Nationalismen“ die Themen Nationalismus und Repräsentationen von Nationalismus mit Beispielen aus Sprache, Recht und Kultur im Ostseeraum. Dabei lag der Fokus nicht nur auf gegenwärtigen Entwicklungen, die Globalisierungs- und Integrationsnarrative der 1990er und 2000er Jahre herausfordern, sondern auch auf etablierten Nationsbildungsprozessen der Staaten im 19. und 20. Jahrhundert.

Florian Coulmas (Duisburg-Essen) eröffnete den Workshop mit einer historischen Einführung zum Unterschied historischer und gegenwärtiger Nationalismen und der Bedeutung von Sprache in diesen Prozessen, bevor er auf die Rolle von Minderheitensprachen einging. Die Komplexität und Aktualität des Themas verdeutlichte er am Beispiel dreier Statements der Präsidenten der USA, Frankreichs und Deutschlands, die den Nationalismusbegriff bewusst unterschiedlich in ihren Ausführungen gebrauchten. Während Trump von sich als Nationalist sprach, unterschied Macron Patriotismus von Nationalismus und Steinmeier verwarf Nationalismus als ideologisches Gift. Nationalismus ist nur eine Konstruktion und so verhält es sich auch mit Sprache, betonte Coulmas. Er räumte mit der Annahme auf, Sprache sei natürlich gegeben und damit auch die nationalen Grenzen, wie es beispielsweise in den nationalen Schriften von Gottfried Herder, Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt deutlich wurde. Jacob Grimm wusste allerdings auch schon im 19. Jahrhunderts, dass Sprache ein Produkt sozialer Prozesse ist. Woraus resultiert die Homogenisierungsfunktion von Sprache im Nationsbildungsprozess? Diese Entwicklung knüpft Coulmas an die Standardisierungsprozesse der Industrialisierung. Minoritätensprachen werden in so einem Kontext entweder politisch gezwungen, sich anzupassen, missachtet oder unterdrückt. In der Nationalismustheorie des 19. Jahrhunderts gelten Minderheitensprachen als gefährlich. Dieses Narrativ hat sich grundlegend gewandelt. Im 20. und 21. Jahrhundert gelten die Ideale einer gleichen und freien Gesellschaft nur, wenn sie die Minderheiten miteinbezieht und mittels ihrer Sprachen eine Teilhabe an der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation ermöglicht. Multilingualismus löst monolinguale Konzeptionen von Nation ab.

Stefan Oeter (Hamburg) betrachtete den Status von Minderheitensprachen aus rechtlicher Perspektive und problematisierte dabei die Unterschiede im Umgang mit Minderheiten und Minderheitensprachen in den verschiedenen Ländern des Ostseeraums. Er stützte sich dabei auf Erkenntnisse aus dem Europarat und dem Stand der Ratifizierung der Charta der europäischen Sprachen. Während sich die meisten Staaten in den internationalen Gremien recht zustimmungsfreudig gegenüber dem Schutz von Minderheitensprachen zeigten, ist die Umsetzung auf nationaler Ebene zuweilen oft dürftig. Einen Hauptgrund hierfür sieht Oeter in der Geschichte. Die neuen und recht jungen baltischen Nationalstaaten zeigen gewisse Probleme mit der Einbindung der „neuen“ russischen Minderheitensprachen in den „neuen“ nationalen Kontext. Ähnlich problematisch stellte sich die Situation des Deutschen in Polen nach dem 2. Weltkrieg dar. Ein positiver Fall zeigt sich in Finnland, wo dem Schwedischen ein Status einer zweiten Nationalsprache mit Einschränkungen erhalten geblieben ist. Ebenso unterschiedlich ist der Umgang mit grenzüberschreitenden Minderheitensprachen, beispielsweise an der deutsch-dänischen Grenze, wo in Schleswig-Holstein die Zweisprachigkeit durchaus erfolgreich in den Strukturen verankert worden ist, oder auch in Litauen, wo allerdings das Polnische als Sprache in den gegenwärtigen Strukturen eher diskriminiert wird. Während auch dem Litauischen ein besonderer Status in Polen verliehen wurde und in der schulischen Ausbildung eine Rolle spielt, werden den anderen Minderheitensprachen, zum Beispiel dem Ukrainischen nur eine untergeordnete Rolle beigemessen. Regionale Sprachen sind ebenso von den Unterordnungen und unterschiedlichen politischen Bewertungen der Regierung abhängig. Während das Kaschubische in Polen anerkannt ist, ist es das Schlesische nicht. Auch in Skandinavien hat man keine einheitliche Strategie zum Beispiel im Umgang mit indigenen Sprachen, wie dem Samischen. In Norwegen genießt das Samische den höchsten Grad der Anerkennung und wird auch in Finnland unterstützt. Schweden tut sich viel schwerer mit seinem „kolonialen“ Erbe und in Russland spielen die Samen mit ihrer Sprache gar keine Rolle.

Tomasz Kamusella (St. Andrews) betrachtete in seinen Ausführungen die Sprachverwendung im Nationsbildungsprozess am Beispiel ethnisch-linguistischer Differenzierungen. Vor diesem Hintergrund verwies auch er auf Sprache als Konstrukt und darauf, dass Sprach- und Nationalstaatsgrenzen nicht zusammenfallen. Vielmehr können die Entwicklungen vor und nach den Weltkriegen in einen Zusammenhang ethnischen Nationalismus gestellt werden, der erst seit den 1990er Jahren zusehends überwunden wurde. Beide Entwicklungen sind jeweils unterschiedlich in den Staaten des Ostseeraums verlaufen. Finnland war bilingual, hat aber beispielsweise 2004 das bis dahin prüfungsobligatorische Schwedisch aus dem Abitur herausgenommen. In Lettland und Estland haben sich zum Teil parallele Strukturen von Nationalsprachen und Russisch entwickelt. In Litauen interveniert eine polnische Initiative mit dem ethnischen Polenpass auf der Ebene der nationalen Loyalitätsbeziehungen der polnischen Minderheiten. In Deutschland sind es die Diskussionen, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist und wie die Staatsbürgerschaft gestaltet wird, die die Rolle von anderen Sprachen bestimmt. In Russland bestimmt die gegenwärtige Politik, dass Sprachfragen das Russische betreffend auch Aufgabe des russischen Staates ist und Russland, obwohl die Realität multilingual ist, ein monolingualer Staat ist. Sprache, Nation und Nationalstaat sind eben kein Schicksal, sondern eine Konstruktion, beschließt Kamusella sein Referat. 

Zenonas Norkus (Vilnius) erweiterte den Fokus von Nationalismuskonstruktionen mit seinem Konzept von monetärem Nationalismus und stellte dieses am Beispiel der Geschichte der Nationalwährungen der Baltischen Staaten vor. Für die meistern Nationalstaaten ist die Entwicklung einer Nationalwährung ein wichtiger Baustein, um die Idee einer Nation zu vermitteln. Neben der Flagge und anderen nationalen Symbolen ist und war es insbesondere die nationale Währung, die im Gedächtnis der Gesellschaft verhaftet blieb. So war es nicht verwunderlich, dass die Baltischen Staaten während ihrer ersten Unabhängigkeit seit dem Ende des 1. Weltkriegs auch jeweils eigene Währungen einführten, die in den 1930er Jahren abgewertet, in den 1990er Jahren trotzdem als Identifikationssymbol mit der Nation dienen konnten. So wurden Kroone, Lat und Litas wiedereingeführt und stärkten den nationalen Stolz. Mit der wirtschaftlichen Krise 2008 und der darauffolgenden Austeritätspolitik, die weithin in den Gesellschaften des Baltikums akzeptiert wurde, begann der wirtschaftliche Wiederaufstieg, der aber mit der Einführung des Euros die nationale Identifikationsfunktion des Geldes abschaffte.

Anna Novikov (Greifswald) erweiterte den Betrachtungsrahmen noch einmal um die Rolle und Bedeutung von gegenwärtigen nationalistischen Moderezeptionen und deren Visualisierungen, insbesondere in Osteuropa, wo mit folkloristischer Mode ein nonverbaler Schlagabtausch nationalistischer und populistischer Propaganda betrieben wird. Sie analysierte hierfür verschiedenes Bild- und Videomaterial, in dem die gegenwärtige nationalistische Kulturpolitik Polens, der Ukraine und Russlands ihren Ausdruck findet. Dabei wies sie auch auf die Ambivalenz der Verbreitung nationaler und nationalistischer Inhalte mittels global funktionierender sozialer Medien hin, die auch dazu beitragen, dass es sich nicht um ein lokales oder nationales Phänomen handelt, sondern durchaus globaler Natur ist. Zwischen europäischem Skeptizismus, Xenophobie, Antisemitismus und Ethnonationalismus zeigen beispielsweise polnische Mode- und Medienmacher Reminiszenzen einer romantisierten polnischen Vergangenheit und Kleidung, die sowohl im Bild als auch auf T-Shirts ihre Verbreitung findet. Die ukrainische nationalistische Propaganda konzentriert sich auf die Darstellung der militärisch gekleideten Frau im Gleichschritt ebenso wie auf Mode mit antiken-paganen Applikationen. In Russland wird unter anderem Präsident Putin als Fashionikone eines „starken“ Landes stilisiert.


– Alexander Drost